Von Ratten, Menschen, Liebe & Müll
Am Mittwoch Abend ging im Wiener Rabenhoftheater die Jubiläums-Premiere von Peter Turrinis „Skandal“-Stück „Rozznjogd“ mit über neun Minuten anhaltenden Standing Ovations für die Akteure Sophie Aujesky und Josef Ellers über die Gemeindebau-Bühne. Miterleben durfte diesen herausragenden Dialekt-Einakter neben zahlreicher Prominenz auch die Originalbesetzung der Volkstheater-Uraufführung von 1971, Franz Morak und Dolores Schmidinger.
ROZZ = wienerisch für RATTE
Wortbedeutung/Definition:
1) mausähnliches Nagetier der Gattung Rattus2) umgangssprachlich: Schimpfwort für einen hinterhältigen Menschen oder ein lästiges Tier
Romeo und Julia, Namenlos am Schrottplatz der Wiener Seele
Voller Stolz drückte Regisseur Werner Sobotka am gestrigen Mittwoch seine umjubelten Akteure Josef Ellers und Sophie Aujesky beim emotionalen Schlussapplaus in die Arme. Und stolz kann er sein, denn das Aujesky-Ellers-Duo hat geschafft, was derzeit kaum jemand schafft: einen hochemotionalen und tobenden Schlussapplaus samt Standing Ovations, der nicht nur den Mimen die Tränchen in die Augen drückte. Vor 50 Jahren war Peter Turrinis Entblößungs-Stück eine waschechte Sensation. Gestern Abend war es das unbestritten wieder.
Damals wie heute spielt Turrinis „Rozznjogd“ im Wiener Arbeitermilieu der frühen 1970er- Jahre. Zwei anonymisierte Protagonisten (ER: Josef Ellers; SIE: Sophie Aujesky) fahren für ihr erstes Rendezvous auf einen abgelegenen Müllplatz außerhalb von Wien. ER will SIE flachlegen, weil das so ziemlich das einzige ist, was ihm neben seinem Auto noch den trüben Arbeitsalltag erhellt. SIE kennt ihn dazu allerdings zu wenig.
Um sich wahrhaftig – und ohne jeglichen „Schnickschnack & Menschenmüll“ – kennenzulernen, entledigen sich die beiden im Laufe des Abends spielerisch ihrer „verschönenden“ Masken und materiellen Besitze. Wenn es auch ER ist, der das Spiel initiiert, so leiden doch offensichtlich beide unter der gesellschaftlich aufgedrängten Maskerade. SIE entledigt sich anfangs unwillig ihres „Pepis“, er sich seiner falschen Zähne und Toupés. Die diversen Markenartikel („Ellen Betrix, Humanic & Co) und sprachlich rausgekotzten Werbesprüche spiegeln all das wieder, was die beiden eigentlich zutiefst verachten.
SIE: „…trotzdem, des is a wüda plozz, wo ma ka dame heabringt. Besondas net beim eastn moi!“
ER: „Is ma wuaschd. I steh auf den plozz.“
Auszug aus Peter Turrinis „Rozznjogd“
Zwischendurch schießen sie abwechselnd auf streunende (Publikums-&-) Müllratten. Weil ein Mann muss ja schließlich killen, um nicht durchzudrehen. Dann besser auf dreckige Ratten, das bringt einen nicht in den Häfn.
Zahnluckert, halbglatzert, Wimpern- und angstfrei gehen hier zwei junge, von der Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit ge-täuschte Menschen aufeinander zu und wagen es, sich komplett ihrer „Schutzmasken“, (wie Kleidung, Accessoires, Fotos, Schminkzeug, Geldtaschen, Karten und auch ihrer Sprache) zu entledigen. Nur, um das wahre Gesicht des anderen hinter der „Verpackung“ zu sehen. Ganz schön ironisch eigentlich, da sich die „Ratten im Publikum“ während der Protagonisten-Entblößung ja selbst hinter gesichtsverdeckenden FFP2-Schutzmasken verstecken müssen.
Je radikaler also die gegenseitige Entledigung des materiellen Schnickschnacks voranschreitet, umso vertrauter und menschlicher werden sie. Aus anfänglicher Unsicherheit und brutaler „Wiener Ghettosprache“ wird eine kindlich-übermütige Vertrautheit, die ihren Höhepunkt schließlich in einem hitzigen „Tanz auf dem (Müll-)Vulkan“ findet.
ER: „Gemma schmusn“
SIE: „Ned so schnö. I kenn di jo no ned“
ER: „Heasd, du redsd a imma densöbn bledsinn. Seid won muasd den wen kenan, mit dem du schlofst?“
Auszug aus Peter Turrinis „Rozznjogd“
Zu guter Letzt kommt es doch zum Intimverkehr. Gerade als der zarte Keim der Liebe erblühen will und ER nach IHREM Namen fragt, werden die beiden selbst -wie Ratten- hingerichtet und sterben. Schutzlos, nackt, aber vereint. Romeo und Julia lassen grüßen.
Für alle, die hier auf ein Happy End á la „Es war die Lerche“ gehofft haben sei gesagt: ein glücklicher Ausgang war für SIE und IHN niemals vorgesehen. Das spiegelt sich schon zu Beginn des Stückes wieder, als ER einen Kinderwagen niederfährt und somit sinnbildlich die Vorraussetzung für ein künftiges „Familienglück“ zerstört. Beide wissen intuitiv, dass es kein Nachher geben kann. Wie Zwiebeln schält man sich also den Müll vom Leib.
ER: „Meagst ned, das es fia uns ka nochea gibd?“
Auszug aus Peter Turrinis „Rozznjogd“
Der kurze, vertraute Moment kann, nein, darf nicht von Dauer sein. Wie bei Shakespeare gibt es Anfangs einiges zu lachen, der Schluß ist dramatisch und ernst. Aus Freudentränen werden zuletzt doch noch echte Tränen. Wäre da nicht Roy Blacks beinahe aufmunterndes „Du bist nicht allein“ das durch den aufgewühlten Theatersaal nach hallt.

Entblößender Selbst-Reinigungsprozess mit Folgen
75 Minuten lang legen die beiden Protagonisten eine humane Demaskierung par excellence aufs Parkett. Und das im allerfeinsten Wiener Proleten-Dialekt. Wie Romeo und Julia – nur halt am Schrottplatz der menschlichen Gefühle. Dieser Seelenstriptease, umhüllt von derben Dialogen, wird nicht nur wörtlich praktiziert. Man entledigt sich peu a peu aller materiellen Masken und Accessoires, um sich so offen, ehrlich und verletzlich wie möglich zu begegnen. Doch kurz bevor die Übung gelingt, ist auch schon alles wieder vorbei.
ER: „Heama zu, i red jezd von am menschn wia von am wogn….i geh hin zueam und wü eam zalegn…..jeds teil in die hond neman….i wü eam do kennanleanan….oba ea laufd ma davon…..losd mi ned…“
SIE: “ warum laufda davon?“
ER: „weila ongst hod!“
SIE: „wieso hoda ongst?“
ER: „das i draufkumm.“
SIE: „auf wos?“
ER: „wos unter der karossari is!“
SIE: „und wos is des?“
ER (brüllt): „obfoi! scheisse!“
Auszug aus Peter Turrinis „Rozznjogd“
Sich seelisch wie körperlich so offen und ehrlich zu entblößen, in einer Zeit, wo sich jeder hinter Masken versteckt, das ist wahre Kunst!
Turrinis „Wutstück“ ist heute aktuell wie nie. Menschen verstecken sich ja mittlerweile sichtbar hinter Masken. So etwas wie Liebe und Vertrauen werden mehr und mehr zur Seltenheit. Äußerliche Schönheit ist auch 2021 noch immer wichtiger als innere Schönheit. Städte werden auf Müll gebaut, wir werden mit Müll & Spam sprichwörtlich zugemüllt. Vielleicht gerade deswegen reagierte das Publikum so emotional auf dieses theatrale Spiegelbild der Gesellschaft.
Sophie Aujesky und Josef Ellers laufen dabei zur Höchstform auf. Hier wirkt nichts mehr gespielt, hier sieht man ins innerste der Protagonisten-Seele. Josef Ellers mag eigentlich fast zu schön für die Rolle des Vokuhila-Proleten mit YSL-Krawattn sein, sein Halbglatzentoupét samt Zahnlücken machen das aber wieder wett. „Seit wann muss ein Mann überhaupt schön sein“, so Sophie Aujesky in der Rolle der aufgeputzten Gemeindebau-Braut, die ihr hier ein erschreckend echtes Leben einhaucht. Hier sieht man echte Spielfreude auf höchstem Niveau!!!
Bühnenbild und Ausstattung von Agnes Hasun ergänzen die trostlos-pittoreske Schrottplatz-Szenerie perfekt. Die Kostüme wirken wie aus einer Zeitkapsel aus den 1970ern, ganz ohne aufgesetzten „Vintage-Style“. Werner Sobotka hat wieder ganze Arbeit geleistet. Der nicht mehr enden wollende Applaus samt neunminütigen Standing Ovations waren sowas von verdient.
Kein Wunder, dass Rabenhof-Chef Thomas Gratzer am liebsten jeden einzelnen im Publikum abgebusselt hätte („Ich könnte jeden einzeln abbusseln, aber ich glaube, das ist gerade keine so gute Idee“).
Anstatt von Busserl könnte er ja aus den vorerst (leider nur) 4 Vorstellungen bitte noch viele weitere Rozznjogd-Vorstellungen ins Program aufnehmen.
Denn wenn eines sicher ist: das wird der Renner der Saison!
BRAVO! ABSOLUT SEHENSWERT!
Rabenhof Theater
Rabengasse 3; 1030 Wien
INFOS & KARTEN: https://www.rabenhoftheater.com/saison-2021-22/premieren-2021-22/rozznjogd/
FACEBOOK: https://www.facebook.com/RabenhofTheater
Premiere: | 22. September 2021 |
weitere Termine: | 2. Oktober 2021 / 7. Oktober 2021 / 28. Oktober 2021 /4. November 2021 |
Beginn: | 20:00 Uhr |
Preis: | € 24,-* |
Von: | Peter Turrini |
Mit: | Sophie Aujesky und Josef Ellers |
Regie: | Werner Sobotka |
Ausstattung: | Agnes Hasun |
