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Lesetipp: „Meeresschwester“ von Carolin Schairer

Ein literarischer Wellengang der menschlichen Seele

Am 17. August 2011 stelle das Schicksal Familie Dahlen aus München am Strand von Malia in Kreta vor die wohl größte Herausforderung ihres Lebens. Der Himmel an diesem Sommertag war klar und wolkenlos. Die Rembetika-Rhythmen der Taverne mischten sich mit dem fröhlichen Gelächter spielender Kinder am Strand. Wer konnte an so einem unbeschwerten Urlaubstag auch ahnen, dass die nächsten sechs Jahre, neun Monate und sechs Tage für Lea und ihre Eltern zur buchstäblichen Hölle auf Erden werden würden?

Alles begann eigentlich so, wie es unter Geschwistern verschiedenen Alters nunmal so üblich ist: mit einer harmlosen Zankerei. Lea, damals ein Teenager, hatte gerade ihre Tage bekommen und war nicht nur aufgrund ihres hormonellen Ungleichgewichts von ihrer kleinen Schwester, Lisa, genervt. Den Badespaß konnte sie unter diesen blutigen „Umständen“ so und so abschreiben und jetzt hatte Lisa ihr auch noch die coolen, neuen Flamingo-Flip-Flops mit nassem Sand versaut.

Um kurz allein zu sein, und auch, um die unliebsame Binde wechseln zu können, flüchtet sich Lea ins nahe Hotelzimmer und bemerkt dabei nicht, dass ihre kleine Schwester ihr folgt. Auch Leas Eltern bekommen davon nichts mit. Sie sind indessen doch mit so wichtigen Dingen wie Lesen und Schlafen „beschäftigt“. Als Lea schließlich zurück an den Strand kommt ist die quirlige Vierjährige wie vom Erdboden verschwunden.

Sechs Jahre, neun Monate und sechs Tage lang.

„Wo hast du Lisa gelassen? Mein Herz begann zu rasen. „Ich…ich…aber sie ist doch bei euch geblieben!“ „Nein, das ist sie nicht!“

Und Lisa blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Was dieser Verlust mit den Dahlens in all dieser Zeit anrichtet schildert Carolin Schairer in ihrem Roman „Meeresschwester“ auf 424 Seiten mit viel psychologischem Gespür. Selbst als Lisa nach all den Jahren schließlich doch noch in Genua gefunden wird, ist der Familie ein Happy End vorerst verweigert. Lisa hat ihre Muttersprache längst verlernt und kann sich bei bestem Willen nicht mehr an ihre eigentliche Familie erinnern. Und das will sie auch gar nicht. Das einzige was sie will, ist zurück aufs Meer. „Voglio andare sulla Sea Star!“

Meeresschwester ist ein Roman zwischen Hoffnung und Angst, genauer gesagt, zwischen vier Familienmitgliedern, die durch die Willkür des Schicksals auf eine ganz besonders harte Probe gestellt werden. Und diese mit ihren allzu menschlichen Handlungen schließlich doch noch auf ihre ganz persönliche Art und Weise meistern.

Dass ein entführtes Kind nach so vielen Jahren wieder lebendig und (körperlich) unversehrt auftaucht, ist leider äußerst selten. Und trotz der Erleichterung und der Wiedersehensfreude, das eigene Kind wohlbehalten zurückzubekommen, ergeben sich in Carolin Schairers Roman zwangsläufig völlig ungeahnte und neue Probleme, die keiner so je voraussehen konnte. Dass Lisa nämlich mit ihren „italienischen Eltern“ ein höchst abenteuerliches Leben auf See erleben durfte, während die Ehe der Dahlens mehr und mehr in die Brüche ging. Ganz abgesehen von Leas unterschwelliger „Mitschuld“ am Verschwinden der kleinen Schwester, die ihr in all den Jahren zusätzlich schwer zu schaffen machte.

Wer je seine kleine Schwester beziehungsweise seine kleine Tochter am Strand (in Italien) verloren hat, weiß, welch ungeheure Angst einen in diesem Momenten überkommt. Hin und hergerissen zwischen Verzweiflung, Panik und Schockstarre versucht man alles nur menschenmögliche, um den kleinen Menschen wohlbehalten und ehest möglich zurück zu bekommen.

Während ich dieses Buch gelesen habe, kamen mir plötzlich längst vergessene Situationen aus meiner Jugend und meiner frühen Mutterschaft zurück ins Bewusstsein. Auch ich habe eine um viele Jahre jüngere Schwester, die, wie Lisa, bereits als kleines Kind mit ihrem süßen, unschuldigen Blick alles erreichen konnte, was sie wollte. Auch ich kenne das Gefühl, die ungeliebte, unsichtbare, höchst unsichere größere Schwester zu sein. Auch ich kenne die tiefe Liebe und Verbundenheit zwischen Schwestern, auch wenn man einmal eifersüchtig ist. Ja, ich kenne das Gefühl der omnipräsenten Schuld, wenn der kleinen Schwester etwas Schlimmes passiert, weil man kurz nicht aufgepasst hat. Und ich kenne die mit keinen Worten zu beschreibende Panik einer Mutter, wenn sie ihr geliebtes Kind am Strand von Jesolo verliert. Das Gefühl der Ohnmacht, wenn aus einer kleinen Unachtsamkeit ein echtes Drama werden kann. Was bei mir glücklicherweise zwei mal glimpflich ausging, muss für die literarische Familie in diesem Buch die Hölle auf Erden gewesen sein.

Die Beschreibung Schairers von Lisa und Lea erinnerte mich auf eine fast schmerzliche Art und Weise an mich und meine kleine Schwester. An meine eigene Teenagerzeit und den Herausforderungen, die diese Zeit mit sich bringt. Wie in jeder Familie hatten natürlich auch wir neben all den wunderschönen Momenten unseres Lebens, einige schmerzhafte. Trennungen, Abschiede, Tränen aber – und darauf kommt es ja an – viele Tonnen an Freuden- und Lachtränen. Ich liebe diesen kleinen, blonden Engel sehr!

Zu all den Ängsten, die Eltern entführter Kinder also ohnehin schon ertragen müssen, kommen mitunter auch noch Beschuldigungen, Hetzjagd und Unfähigkeit der Behörden hinzu. Man erinnere sich nur an Vermisstenfälle wie die der kleinen Maddie McCaan oder einer Natascha Kampusch, bei denen die Eltern plötzlich ins Visier der polizeilichen Ermittlungen gerückt sind. Dass da eine ohnehin bereits abgekühlte Ehe massiv auf die Probe gestellt wird bedarf wohl keiner größeren Vorstellungskraft.

Besonders beeindruckend und hervorzuheben ist für mich in dieser emotionalen Lese-Achterbahn Leas Entwicklung vom unscheinbaren und höchst unsicheren Teenager zur jungen, selbstbewussten Frau, die nicht nur aufgrund der Entführung ihrer kleinen Schwester schon genug zu kämpfen hat. Doch mehr sei hier nicht verraten.

„Es ist der dreiundzwanzigste Mai. Plötzlich erfüllt mich ein tiefgehendes Gefühl von Frieden und Ruhe. Ein ganzes Jahr konnte ich meine Schwester um mich haben, mit ihr gemeinsam die Gitter eines unsichtbaren Gefängnisses sprengen, Grenzen überschreiten, unsere Welt ändern und Neues entdecken. Ein ganzes Jahr lang haben wir uns gegenseitig unterstützt, gelacht und geweint. Wir sind beide nicht mehr dieselben. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen.“

Fazit: „Meeresschwester“ ist ein besonders berührender, mitreissender und tief gehender Roman, der – zumindest bei mir – bis in die hintersten Ecken meiner Seele vorgedrungen ist. Gleich einem schaukelnden Floß auf hoher See mit rettendem Land in Sicht. Ein illustrativer Wellengang der menschlichen Seele. Und dem Bewusstsein, während des Lesens plötzlich mit den eigensten Urängsten konfrontiert zu werden. Und dann die bewundernswerte Macht eines Autors/einer Autorin, selbst die ausweglosesten Situationen literarisch anspruchsvoll lösen zu können. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Denn Tränen werden bei diesem Familienroman mit Sicherheit fließen.

Menschlich, berührend, wunderschön und absolut lesenswert.

„Meeresschwester“ erschien Ende August 2019 im Ulrike Helmer Verlag (20,00 €inkl. MwSt/Ausgabe)

Daten:

  • VERLAG: Ulrike Helmer Verlag
  • GENRE: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • SEITENZAHL: 424
  • ERSTERSCHEINUNG: 31.08.2019
  • ISBN: 9783897414341
Foto: Berggasse 8

Buchbestellung unter: https://www.ulrike-helmer-verlag.de/buchbeschreibungen/carolin-schairer-meeresschwester/

Foto: Doris Anna Klinda

Zur Autorin: CAROLIN SCHAIRER

Carolin Schairer wuchs in Niederbayern auf. Bereits während der Schulzeit schrieb sie mehrere (unveröffentlichte) Romane, die von ihrem Freundeskreis und ihrer Familie gelesen wurden. Nach dem Abitur studierte sie an der KU Eichstätt Diplom-Journalistik und sammelte nebenbei in Praktika und als freie Mitarbeiterin Erfahrung im Medienbereich. 2001 zog es sie nach Wien, wo sie auch heute noch wohnt. Neben dem Schreiben der Diplomarbeit war sie bei einer Agentur für Medienbeobachtung sowie in der Markt-und Meinungsforschung tätig. Nach erfolgreichem Studienabschluss bekam sie einem Job im Pressebüro eines Finanzdienstleistungsunternehmens, erhielt Einblick in die Welt der Aktien und Fonds und wechselte danach als PR-Managerin in die Pharmabranche. Mit ihrem Buch „Marie anderswie“ war sie für den DELIA-Literaturpreis 2011 nominiert. Seit 2008 erscheinen ihre Romane und Krimis kontinuierlich im Ulrike Helmer Verlag, darunter „Ellen“, „Die Spitzenkandidatin“, „Küsse mit Zukunft“ und „Dunkle Erleuchtung“ (CRiMiNA). Carolin Schairer schreibt überwiegend lesbische Liebesromane und Krimis. Bis heute hat die Wahlwienerin mit deutschen Wurzeln eine beachtliche Zahl von Büchern veröffentlicht.
In ihrem aktuellen Roman zeigt sich die Autorin, die ihre Liebe zum Schreiben ihrer Großmutter verdankt, erstmals von einer ganz anderen Seite – sie erzählt in „Meeresschwester“ die Geschichte von zwei Schwestern, die sich erst wieder neu kennenlernen müssen, und von Eltern mit einem ihnen fremd gewordenen Kind.

Carolin Schairer war außerdem 2011 mit ihrem Roman „Marie anderswie“ für den DeLiA-Literaturpreis nominiert.

Chefredakteurin bei CRITICAL MINDS MAGAZIN +++ Ressortleitung: Theater-Film-Stars +++ Davor als Kultur-Redakteurin tätig bei SCHiCKMagazin, KURIER Medienhaus und der Tageszeitung HEUTE.

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