Oscar-Preisträger Christopher Hampton hat an der sonst so aktuell orientierten Josefstadt Stefan Zweigs Novelle „Brief einer Unbekannten“ (in einer Übersetzung von Daniel Kehlmann) zu einer reichlich antiquierten Uraufführung gebracht.
„Sind wir nicht alle ein bisschen Marianne“?
Christopher Hampton ist Drehbuchautor, Dramatiker, Regisseur und Oscarpreisträger. Seit Freitag übrigens auch noch Ehrenmitglied an der Josefstadt. Nach Arbeiten wie „Jugend ohne Gott“ (2009), „Eine dunkle Begierde“ (2014) und „All about Eve“ (2018) holte Direktor Herbert Föttinger den preisgekrönten Briten (74) in diesen herausfordernden Zeiten erneut an sein Haus zurück. Die hohen Erwartungen an diese Produktion wurden jedoch – zumindest aus sehr subjektiver Sicht – nicht zur Gänze erfüllt. Und das trotz des herausragenden Schauspielerduos Martina Ebm und Michael Dangl.
Zu antiquiert wird hier das Frauenbild der „Marianne“ dargestellt. Zu rückschrittlich obsessiv ist diese Frau, die eigentlich, zumindest unterschwellig, Anklage an jenen Mann – und Kindesvater – machen müsste, dem sie ihr halbes Leben lang eine Unbekannte war. Dem Mann, der sie geschwängert und vergessen hat. Dem Mann, dessen Kind sie im Alleingang aufgezogen hat, wohlwissend, dass Stefan seine Freiheit braucht. Dem Mann, wegen dem sie sogar zur Kurtisane wurde, nur um dem geliebten Kind, den wohlverdienten Wohlstand zukommen zu lassen. Hampton inszeniert die Vorlage von Stefan Zweigs „Brief einer Unbekannten“ als anachronistische Retrospektive in eine Zeit, in der wir Frauen nicht mehr leben möchten.
Die Story ist kurz erklärt: Jugendliches Mädchen verliebt sich in den Mann von nebenan. Aus kindlicher Verliebtheit wird pathologische, krankhafte Liebe. Nach einer gemeinsamen Nacht wird Marianne schließlich schwanger. Doch anstatt Stefan alles zu beichten, beschließt sie das Kind alleine aufzuziehen. Damit sie das kann, wird sie zur Kurtisane. 10 Jahre später stirbt das Kind und Marianne kommt zurück, um Stefan alles zu erzählen. Nach einer letzten gemeinsamen Nacht begeht sie Suizid.
Er: „Du musstest dich verkaufen!“
Sie: „Das war nun wirklich kein Opfer!“
Dieser jene Mann, Stefan (Michael Dangl wie immer brilliant, auch wenn man ihm den Schmerz seiner hier so unemanzipierten Gegenprotagonistin ansehen kann), ist ein erfolgreicher, jüdischer Schriftsteller mit eigenem Diener (Michael Schönborn) und Hang zur Leichtlebigkeit. Seit Jahren bekommt er zu seinem Geburtstag einen Strauß weißer Rosen von einer/einem ihm gänzlich Unbekannten. Während er über Jahre Frauen zum Amusement mit nach Hause bringt, leidet das Nachbarmädchen Marianne (hier dargestellt von Lara Buchsteiner) indes still vor sich hin. Sie liebt den Mann von nebenan mit einer anfangs noch kindlichen, später jedoch so krankhaften Zwanghaftigkeit, dass man im Grunde nicht nachvollziehen kann, warum sie dem Mann, der auch noch Vater ihres eben verstorbenen Kindes ist, so gar keinen Vorwurf machen will. Auch wenn er von dem Kind nichts wusste. Heute würde man Marianne als „verrückte Stalkerin“ und Märtyrerin titulieren. Bei Christopher Hampton hingegen wird Marianne lediglich als „armes, unterwürfiges Hascherl“ dargestellt. Und hier fängt das Dilemma an.
„Sie sind ein seltsames Mädchen. Die meisten hätten wohl so getan, als würden sie mich abwehren.“
„Ich habe nicht vor sie abzuwehren!“
Direktor Herbert Föttinger, der seit Jahren so akribisch drauf achtet, die Frauen(rollen) an seinem Theater mit einer unverkennbaren Emanzipation auszustatten, hat uns bei Hamptons obsoletem Kammerspiel – zum Leid der Frauen – davon kaum etwas spüren lassen. Da ist kein Tröpfchen von unterschwelliger Anklage in Mariannes Ton. Null Rebellion oder Rachelust in ihren Augen. (Klischee oder nicht Klischee, zumindest wird uns dieses immer wieder nachgesagt!). Nur altruistisch, selbstlose Liebe. So lässt zumindest Dangls Satz „Jetzt wird es schmerzhaft“ und ein perfekt getimtes „pfuh“ das Publikum ein wenig schmunzeln. Wie auch anders hätte er reagieren sollen bei so viel Unterwürfigkeit?
„Du brauchst deine Freiheit und deine Verantwortungslosigkeit!“
Marianne zu Stefan
Der Zuschauer wird bereits beim Öffnen des Bühnenvorhangs zum (unfreiwilligen) Voyeur und bekommt einerseits Einblicke in die Untiefen der weiblichen Seele wie auch in die Machtlosigkeit eines Mannes, der sich zu allem Übel auch noch mit dem zunehmenden Antisemitismus der 1920er Jahre auseinandersetzen muss. So schön es ist, einer Martina Ebm beim Spielen zuzusehen, so sehr hätte man sich aber auch ein klein wenig mehr unterschwellige Aggression von ihrer Rolle gewünscht. Mehr Emotion und Obsession hätte die Bühnenfassung auf jeden Fall vertragen. Dass die Chemie bei Dangl und Ebm durch und durch stimmt, das weiß man ja bereits seit „Der Zerissene“ und „Eine dunkle Begierde“. Und so zieht Marianne den irritierten Mann nach ihrem wortgewaltigen Geständnis auch noch ins Schlafzimmer nebenan. „Ich weiß nicht, ob ich….“ – doch er kann!
Das Ende ist also ein halbes „Romeo und Julia“. Zach. Warum muss alles immer gleich im Freitod enden? Auch ich habe schon mehrfach, teils obsessiv, geliebt. So muss ich mir erneut die Frage stellen: „Sind wir nicht alle ein bisschen Marianne“? Nein! Sind wir nicht! Auch wenn es hie und da noch solch „Marianne-Wesen“ geben mag. 2020 muss das Frauenbild ein anderes sein. Ein Liberales, Gleichgestelltes, Aufgeklärtes.
Das Bühnenbild von Anna Fleischle und Liam Bunster ist einfach und stimmungsvoll, das Licht von Emmerich Steigberger schön eingesetzt. Michael Schönborn ist ein Diener aus dem Bilderbuch. Zumindest er erkennt das ehemalige Nachbarsmädchen wieder. Man fühlt sich beinahe wie im eigenen Wohnzimmer in der Josefstadt. Nur mit mehr Wut und Emotion auf so viel fruchtloses Märtyrertum.
Marianne: Schöne Rosen.
Stefan:Ja. Ein kleines Mysterium.
Marianne: Wieso?
Stefan: Jedes Jahr schickt jemand an meinem Geburtstag einen Strauß weiße Rosen.
Marianne: Sie wissen nicht, wer?
Stefan: Keine Ahnung.
Marianne: Also haben Sie Geburtstag?
Stefan: Gestern bin ich vierzig geworden.
Marianne: Gab es ein großes Fest?
Stefan: Das habe ich mir für heute Nacht aufgehoben.
FAZIT: Solides Josefstadt-Kammerspiel im Sinne von „Back to the Präteritum“ mit einem fraglos brillianten Schauspieler-Dreamteam. Christopher Hampton hätte hier allerdings noch an den feinen Nuancen der Protagonisten feilen können.
BESETZUNG
Regie
Christopher Hampton
Bühnenbild
Anna Fleischle
Associate Bühnenbild
Liam Bunster
Kostüme
Birgit Hutter
Musik
George Fenton
Dramaturgie
Silke Ofner
Licht
Emmerich Steigberger
Marianne
Martina Ebm
Stefan
Michael Dangl
Johann, ein Diener
Michael Schönborn
Ein Mädchen
Lara Buchsteiner / Daria Tayel
Premiere am 1. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause
THEATER IN DER JOSEFSTADT
Josefstädter Str. 26, 1080 Wien
WEBSEITE: https://www.josefstadt.org
FACEBOOK: https://www.facebook.com/TheaterinderJosefstadt
INSTAGRAM: https://www.instagram.com/josefstadttheater/?hl=de