Das dokumetarische und emotional aufwühlende Theaterstück unter der Regie von Nuran David Calis beschäftigt sich mit der Flüchtlingskrise von 2015 aus der Sicht von Salzburger Ersthelfer*innen und ist für mich nach dieser Woche aktueller denn je.
Kann dieses Projekt irgendetwas verändern?
Es muss!
Im Spätherbst 2015 wurde die Stadt Salzburg, wie andere europäische Städte auch, zu einem Kristallisationspunkt der europäischen Flüchtlingsbewegung. Über fünf Jahre später sind die zahlreichen Bilder und Nachrichten von Menschen auf der Flucht, dem improvisierten Lager am Salzburger Hauptbahnhof und der angrenzenden Bahnhofsgarage sowie den vielen Herausforderungen, die mit dieser Situation entstanden sind, in den Köpfen der Salzburger & Salzburgerinnen noch immer präsent. So auch beim ehemaligen Salzburger Bürgermeister Heinz Schaden, der sich hier ebenfalls zur damaligen Situation zu Wort meldet.
Regisseur und Autor Nuran David Calis hat mit diesem Stück – in Zeiten, wo Kinder am Tag des Holocaust Gedenktages abgeschoben werden – am Salzburger Landestheater ein Plädoyer für die Kraft des Zusammenhalts der Zivilgesellschaft auf die Bühne der Szene Salzburg gebracht. Die Produktion bringt Expert*innen des damaligen Alltags und Schauspieler*innen gemeinsam auf die Bühne und ist nicht nur für die Salzburger Bühne, sondern auch für mögliche Gastspiele in Europa entlang der Balkanroute ausgelegt. Uraufführung war am Samstag, den 30. Jänner, bis 28. Februar kann man das Stück um nur EUR 9.- über die Seite des Salzburger Landestheaters streamen. Der Link dazu: https://www.salzburger-landestheater.at/de/seiten/streaming-angebot.html
Nach einer Woche, wo man sich tatsächlich schon täglich fragen muss, was in Österreich eigentlich alles falsch läuft politisch, bin ich dankbarer denn je, dass mich Kabarettist Gerold Rudle auf diese bewegende und extrem wichtige Inszenierung von Nuran David Calis aufmerksam gemacht hat. Hier agieren vier unglaublich präsente, junge Schauspieler, die einen vom ersten Moment an in eine Geschichte ziehen, die leider nicht der Phantasie eines Horrorautors, sondern der tragischen Realität entsprungen ist. Eine Geschichte, die wir wohl alle mitbekommen haben, aber so noch nie zu spüren bekommen durften. Und ich habe so einiges sehen dürfen. Herbert Föttinger hat an der Josefstadt ganze Spielsaisonen diesem Thema gewidmet. Aber dieses Stück hier geht an die Grenzen. Zumindest für mich. Wir erinnern uns alle an den kleinen Jungen in seinem roten Hemdchen, der tot am Strand angespült lag. Dieses Bild werde ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Auch sein Schicksal wird hier behandelt und man weiß nicht, ob man schreien oder weinen möchte vor Verzweiflung, Scham und Wut.
Ich kenne viele Freunde und Kollegen, die damals rund um die Uhr geholfen haben. Hilde Dalik zum Beispiel hat hier in Wien großartige Arbeit geleistet. Aber ich kenne auch welche, die keine Ahnung hatten, wie man in all dem Chaos überhaupt helfen kann. Die Kommunikation von Seiten der Politik hat damals völlig versagt. Selbständig heißt ja noch lange nicht, dass alle Menschen auch immer selbst und ständig denken. Das bestätigt auch der ehemalige Bürgermeister Heinz Schaden. Wir haben hier also nicht nur auf der Bühne junge Menschen, die sich 2021 Gedanken darüber machen, was damals alles schief gelaufen ist. Junge Menschen, die ernsthaft darüber nachdenken, warum sie mit Sicherheit bei einem Schiffsunglück aus dem Mittelmeer gerettet würden, während man diese Hilfe Flüchtlingen verwehrt. Kinder und Eltern ertrinken lässt. Weil sie nicht weiß und europäisch sind. Mensch ist NICHT gleich Mensch. Das ist uns mittlerweile allen klar. Doch wo genau liegt der Preis eines Menschenlebens?
„Warum funktioniert das immer bei Einzelnen, aber auf einer großen, staatlichen Ebene nicht?“
Ein Schauspieler bringt ein sehr treffendes Beispiel: Er sieht, wie eine alte Frau stürzt. Er setzt sich die Maske auf und hilft der alten Dame auf. Weil man das einfach tut. Was aber wenn an (s)einem Tag 20 Omas stürzen? Er kann ja auch nicht einfach sagen: „Sorry, ich hab heute schon 20 Omas aufgeholfen, jetzt ist wirklich Schluss!“ Ich finde gerade dieses Beispiel extrem treffend für unsere EU-Politik. Natürlich kann man nicht allen Menschen auf dieser Welt helfen, die auf der Flucht sind. Aber man sollte nie zählen müssen, wer oder wem geholfen wird. Schwächeren zu helfen ist für mich ein Menschenrecht. Egal aus welchem Land, egal welcher Religion angehörig. Es geht um den Menschen. Immer. Und wenn ich sehe, wie man junge Menschen abschiebt, die hier geboren und aufgewachsen sind, dann macht mich das wütend. Es macht mich auch wütend, wenn ich sehe, wie viele Menschen tagtäglich im Mittelmeer ertrinken müssen. Nicht weil es zuwenig Menschen gibt, die helfen wollen. Nein, sie ertrinken und sterben nur aufgrund unserer Politik.
Ich könnte hier noch ewig über diese für mich wirklich augenöffnende Inszenierung schreiben, möchte aber viel mehr meine Leser dazu bewegen, sich dieses Stück selbst via Stream anzusehen. Um sich ein Bild darüber zu machen, was in dieser, unserer Welt alles falsch läuft und auch, was Gutes passiert. Dieses Stück ist ein buchstäbliches Plädoyer für die Kraft des Zusammenhalts unserer Zivilgesellschaft und dem Denkanstoß jedes einzelnen gegenüber einer entmenschlichten Politik. Corona hat uns gezeigt, dass es uns alle treffen kann: Armut. Einsamkeit. Ausgrenzung. Noch leben wir in einem Land ohne Kriege, aber auch das war vor nicht allzu langer Zeit noch anders. Viele von uns mussten fliehen. Den meisten wurde geholfen. Heute kommen diese Menschen zu uns. Haben wir wirklich vergessen, wie sich das anfühlt?
Theater ist wichtig. Vielleicht wichtiger denn je. Theater spiegelt unsere Gesellschaft, unsere Werte, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Träume. Lassen wir das Theater am Leben. Unterstützen wir es mit EUR 9.- um ein paar ausgezeichneten, jungen Schauspielern zuzusehen, wie sie sich für uns die Seele aus dem Leib spielen. Und uns zum denken, zum weinen und zum lachen bringen. Es lohnt sich wirklich.
Zum Stream:
https://www.salzburger-landestheater.at/de/seiten/streaming-angebot.html
Nuran David Calis wurde 1976 in Bielefeld geboren. Er arbeitete als Türsteher, studierte Regie und produzierte Musikclips für HipHop-Bands. Er ist Regisseur, Theater- und Drehbuchautor. Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 2006 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur, 2014 mit dem Stipendium der Kulturakademie Tarabya.
Als Autor und Regisseur hat er sich auf die Entwicklung dokumentarischer Theaterprojekte spezialisiert, die er u. a. am Deutschen Theater Berlin, Schauspiel Köln und Schauspiel Hannover inszeniert hat. Die Stückentwicklung „#Ersthelfer #FirstAid“ entstand auf Basis von Interviews, die der Theatermacher mit Salzburger*innen führte, und Eindrücken, die er durch seine Reise entlang der Balkanroute gesammelt hat.
BESETZUNG
Inszenierung Nuran David Calis
Bühne Anne Ehrlich
Kostümkonzept Stephanie Bäuerle
Musik Vivan Bhatti
Dramaturgische Mitarbeit Ivan Vlatkovic
Mit
Larissa Enzi
Nikola Jaritz-Rudle
Skye MacDonald
Maximilian Paier
Heinz Schaden
Live-Schaltung nach NGO Moria, Lesbos
Sophie Stattegger
Thanos Charoup
Salzburger Landestheater
Schwarzstr. 22
5020 Salzburg
WEBSEITE: https://www.salzburger-landestheater.at/de/start/index.html
FACEBOOK: https://www.facebook.com/SalzburgerLandestheater