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„Der Kirschgarten“ polarisiert an der Josefstadt

Regisseurin Amélie Niermeyer feiert mit einer obskuren wie auch berührenden Inszenierung von Anton Tschechows Tragikkomödie „Der Kirschgarten“ ihr Josefstadt-Debut.

Zwei vergessene Gestalten: Otto Schenk als Firs & Alexander Absenger als Gouvernante Charlotta
Fotos © Astrid Knie

Zugegeben, etwas gewöhnungsbedürftig war es Anfangs schon, sich Tschechows gemeinhin eher traditionell inszeniertes Werk in einem so vollkommen neuem Gewand anzusehen. Und das an der Josefstadt! Dennoch hat Niermeyers voll von heiterer Ironie sprühende Inszenierung etwas Magisches an sich. Lässt sie doch buchstäblich die Puppen tanzen.

Wer einmal die legendäre Inszenierung von Peter Stein an der Berliner Schaubühne und bei den Salzburger Festspielen miterlebt hat, wird seither wohl alle weiteren „Kirschgarten“- Inszenierungen latent daran messen. Bewusst oder unbewusst. Trotz dieser hohen Messlatte hat Josefstadt-Neuling Amélie Niermeyer ein nicht minder faszinierendes Stück auf die Bühne gebracht – und damit überzeugt. Auch wenn die Meinungen des Publikums im Anschluss doch ziemlich auseinander gingen. Polarisieren ist in, bleibt man doch im Gespräch.

Die Intention in Anton Tschechows letztem Bühnenwerk war es ja (er starb nur sechs Monate nach der Moskauer Premiere am 30. Jänner 1904), den Mythos der guten alten Zeit satirisch zu demontieren. Der Kirschgarten steht für den russischen Adel, der nur noch rein dekorativen Zwecken dient und nachhaltig vom Proletariat abgesägt wird.

Als eines seiner einerseits trivialsten und doch so facettenreichsten Dramen ist Der Kirschgarten ein ebenso elegischer wie bitter-komischer Abgesang auf eine Gesellschaft, die in Russland vor der Revolution vorherrschte. „Der Kirschgarten ist kein Drama geworden, sondern eine Komödie, stellenweise sogar eine Farce“ so Tschechow einst über sein letztes Werk. Es sollte eben kein wehmütiger Abgesang auf die alten Traditionen werden, wie man ihm so oft nachsagte. Tragik und Komik gehen bei ihm Hand in Hand.

Home Sweet Home

Das Stück spielt bei Niermeyer nun nicht wie gewohnt um 1900 auf einem eleganten russischen Landgut mit einem schönen, blühenden Kirschgarten, sondern im Hier und Jetzt, wobei Bühnenbild und Kostüme eher an eine Hippie-Kommune der frühen 1980er Jahre erinnern.

Das Anwesen ist dramatisch hoch verschuldet und soll demnächst zwangsversteigert werden. Aus diesem Grund bringt Anja, die Tochter der russischen Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, Mutter und Familie noch einmal am vom Kindheitserinnerungen behafteten Landgut zusammen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Glaubt die divenhafte Ranjewskaja (Sona MacDonald) in ihrer naiven Art doch nach wie vor an die Verschonung des – trotz voll von tragischen Erinnerungen (ihr Kind ist hier einst ertrunken) – heißgeliebten Gutes.

Endstation Kirschgarten

Jahrelang hat sie ihr Geld zum Fenster raus geworfen, nun will sie nach amourös erfolglosen Jahren in Paris in ihrer alten Heimat endlich die heile Welt ihrer Kindheit wieder finden. Und blendet dabei den drohenden Untergang ebendessen weitgehend aus.

Ich habe immer mit Geld um mich geworfen, hemmungslos wie eine Wahnsinnige…“

Die einzige finanzielle Rettung könnte vom ehemals leibeigenen Bauersbuben Jermolaj Alexejewitsch Lopachin (Raphael von Bargen) kommen, der inzwischen zum steinreichen Kaufmann avanciert ist. Den Kirschgarten will er dafür allerdings abholzen lassen um darauf profitable Datschen für Sommergäste zu bauen. Sommerfrische für’s Proletariat quasi.

Dass Ranjewskaja darauf kaum eingeht ist nicht verwunderlich. Der Kirschgarten ist für sie von unschätzbarem Wert und somit wird die Realität erstmal ausgeblendet. Es wird gesoffen, getanzt, gekotzt und geschnackselt. Anstatt aktiv zu handeln warten die Figuren nur darauf, bis sich ihr Schicksal ganz von selbst entscheidet.

„Abholzen? Mein Lieber, verzeihen Sie, Sie haben keine Ahnung. Wenn es im ganzen Gouvernement nur irgendetwas Interessantes, sogar Bemerkenswertes gibt, dann ist das unser Kirschgarten.“

[Ranjewskaja ]

In dieser bizarr partylaunigen „Großfamilie“ sticht eigentlich nur der uralte Greis Firs (berührend: Otto Schenk) heraus, der in seiner antiquierten Butler-Manier das einzige Relikt aus einer längst vergangenen Zeit zu sein scheint. Sein Leben lang stand er im Dienste der reichen Gutsfamilie, so auch sein Enkel Jascha (Claudius von Stolzmann), der mit der Leibeigenschaft nur noch wenig anfangen kann. Viel lieber schmeisst er sich an die Patriarchin ran um endlich auch vom verführerisch leichtlebigen Wohlstand mitkosten zu dürfen.

Musikalische Abholzung

Was neben der berührenden Performance von Josefstadt-Doyen Otto Schenk (89) übrigens ein klein wenig traurig stimmt: Die russische Seele kommt hier zu kurz. Die musikalische Untermalung von Ian Fisher passt zwar zur Szenerie, jedoch fehlt hier das typisch Russische. Das ganze könnte ebenso in Baden bei Wien wie auch im Amerikanischen Süden passieren. Einzig die von Lopachin kurz angetanzte Titelmusik aus Doktor Schiwago erinnert daran.

„Ohne den Kirschgarten würde ich mein eigenes Leben nicht mehr verstehen“

[Ranjewskaja ]

Die Lust am Leiden

Wie kuriose Zirkusartisten (Kostüme von Annelies Vanlaere) toben Niermayers Figuren also in einem absurd-komischen Endspiel über die Drehbühne von Stefanie Seitz (die anfangs in Dauerschleife drehende Bühne nervt hier etwas). Die zutiefst melodramatische Sippe tanzt wodkatrunken in den eigenen Abgrund. Doch mehr als am monetären Drama leiden die handelnden Personen hier eigentlich an der Liebe. Sie können einfach nicht zueinander finden. Ein Flirt hier, ein kurzer Beischlaf da, aber das war’s dann auch schon.

Das Stück handelt somit nicht nur von den finanziellen Desastern der einzelnen Figuren, sondern vor allem von der Lethargie, die Liebe und das damit verbundene Glück zu finden. Allen voran der Protzer Lopachin, der es bis zuletzt nicht schafft, Ranjewskajas Adoptivtochter Warja (Silvia Meisterle) einen Antrag zu machen.

Rache – eiskalt serviert

Es kommt, was kommen muss: Letztendlich stellt der neureiche Proll die Familie vor vollendete Tatsachen. Während Ranjewskaja – aufgrund der wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt stehenden Frist – zu einer letzten Party lädt, kauft Lopachin den Kirschgarten und setzt die ehemaligen Besitzer samt Entourage und Champagner vor die eigene Tür.

Dass also am Ende ausgerechnet der ehemals Leibeigene Bauerssohn den Kirschgarten sein Eigen nennt ist nicht nur ihm selbst unbegreiflich.

Alexander Absenger als transsexuelle Gouvernante mit dem neureichen Bauersbub Lopachin (Raphael von Bargen)
Fotos © Astrid Knie

Queerer Rollentausch

Besonders sticht hier die Performance von Alexander Absenger heraus, der die Gouvernante Charlotta Iwanowna als tragisch-komische Transe anlegt – und damit punktet. In seiner Verletzlichkeit stiehlt er der großen MacDonald beinahe die Show. Diese geht (an diesem Abend) emotional einfach zu wenig in die Tiefe.

Und was ist mit den anderen Figuren? Leonid Andrejewitsch Gajew (Götz Schulte), Ranjewskajas nicht minder verschwenderischer Bruder, geht nicht nur der jungen Generation mit seinem Geschwätz auf den Geist, hingegen punktet der ewige Student Pjotor Sergejewitsch Trofimow (Nikolaus Barton) mit seiner etwas unbeholfenen Zuneigung zur Gutstochter Anja (Gioia Osthoff). Die sieht im „unansehnlichen Pulloverheini“ nämlich den revolutionären Weltverbesserer. Da stören nicht einmal die Socken in den Birkenstock-Sandalen oder die Krankenkassa-Brille.

Dank ihm liebt sie den den Kirschgarten nicht mehr wie früher, kann – mit ein wenig Schwermut – in ein neues Leben gehen. Für sie ist der Abschied letztendlich der Anfang in ein neues Leben. Schließlich ließe sich auch an einem anderen Ort ein neuer Garten pflanzen, so die Tochter zur Mutter.

Tanzen bis zum Umfallen (Mac Donald mit Ensemble)
Foto © Astrid Knie

Dienstmädchen Dunjascha (Alma Hasun) brilliert trotz seltsam gewählter Gesten als allzu menschliches Wesen. Gutsbesitzer Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik (Robert Joseph Bartl) mimt den latent tragischen Pleitegeier mit Windhals-Strategie. Kontorist Semjon Pantelejewitsch Jepichodow (Igor Karbus), der bei Peter Stein noch einen höheren Stellenwert hatte als hier, holt zumindest das Beste aus seiner zurückgestellten Rolle heraus.

Von der sonst so fantastischen Sona MacDonald hätte man gern ein bisschen mehr Tiefgang gesehen, dennoch besticht sie durch ihren unverwechselbaren Charme. Claudius von Stolzmann besticht ganz sicher nicht durch seine allgemein bekannte Nacktheit auf der Bühne (Gioia Osthoff liefert hier den Lacher des Abends). Nein, er präsentiert vielmehr einen jungen Menschen, der nach mehr strebt als nur kulturloser Monotonie auf dem Land. Und das mit einer beachtenswerten Authentizität.

Dem russischen Volk wird allgemein gern eine Neigung zur Schwermut nachgesagt. Nicht so bei Niermeyer. Ihre Figuren tänzeln sich abwechselnd lethargisch-chaotisch in die bevorstehende Delogierung und finden sich zuletzt – Charlotta ausgenommen – weitgehend realistisch mit der neuen Situation ab.

Abfahrt ins Ungewisse

Der Zug in eine neue Ära kommt in 10 Minuten. So verabschieden sich die Herrschaften vom neuen Eigentümer und dem Haus ihrer Ahnen. Zurück bleibt nur der Hausdiener Firs. Er sollte wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit eigentlich von „Nichtsnutz“ Jascha ins Spital gebracht werden. Doch man hat ihn im leeren Haus schlichtweg vergessen. Das letzte Wort hat dennoch noch er. Entkräftet legt er sich hin und stirbt während die ersten Bäume des Kirschgartens fallen.

Spätestens hier hat wohl jeder im Publikum Gänsehaut bekommen. Überzeugender kann man diese Rolle kaum spielen. Herbert Föttinger hat der lebenden Legende Otto Schenk (72 Jahre Bühnenerfahrung am Buckel!) damit die wohl passendste Rolle seines Lebens gegeben. Hut ab!

Fazit

Wenngleich die Inszenierung doch ein wenig abgefahren ist, schafft Amélie Niermeyer (in Deutschland hat sie bereits drei Mal Tschechow inszeniert) Dank eines famosen Ensembles den Spagat zwischen Tradition und Moderne. Und das ist doch immerhin die Grundaussage des Stückes. Die Highlights sind dennoch Absenger und Schenk, als zwei verzweifelt „vergessene“ Gestalten in einer emotional so oberflächlichen Welt. Verdienter Applaus!

BESETZUNG

Regie
Amélie Niermeyer

Bühnenbild
Stefanie Seitz

Kostüme
Annelies Vanlaere

Songs
Ian Fisher

Dramaturgie
Silke Ofner

Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, eine Gutsbesitzerin
Sona MacDonald

Anja, ihre Tochter
Gioia Osthoff

Warja, ihre Adoptivtochter
Silvia Meisterle

Leonid Andrejewitsch Gajew, Ranjewskajas Bruder
Götz Schulte

Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, ein Kaufmann
Raphael von Bargen

Pjotor Sergejewitsch Trofimow, ein Student
Nikolaus Barton

Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik, ein Gutsbesitzer
Robert Joseph Bartl

Charlotta Iwanowna, eine Gouvernante
Alexander Absenger

Semjon Pantelejewitsch Jepichodow, ein Kontorist
Igor Karbus

Dunjascha, ein Dienstmädchen
Alma Hasun

Firs, ein Diener, ein Greis
Otto Schenk

Jascha, ein junger Diener
Claudius von Stolzmann

Iwan, ein Mitbewohner (Live – Musiker)
Ian Fisher

Otto Schenk alias Firs bleibt allein zurück
Foto: Astrid Knie

Theater in der Josefstadt

Premiere: 5. Dezember 2019

Weitere Termine & Infos

Webseite https://www.josefstadt.org/programm/stuecke/premieren-201920/action/show/stueck/der-kirschgarten-3.html

Facebook https://www.facebook.com/TheaterinderJosefstadt/

Trailer 1 von Philine Hofmann https://www.youtube.com/watch?v=qCneSmT6TtU

Trailer 2 von Jan Frankl https://www.youtube.com/watch?v=rbNjOjnekt8

https://www.facebook.com/critical.minds.503

Chefredakteurin bei CRITICAL MINDS MAGAZIN +++ Ressortleitung: Theater-Film-Stars +++ Davor als Kultur-Redakteurin tätig bei SCHiCKMagazin, KURIER Medienhaus und der Tageszeitung HEUTE.

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